
Freitag, 16. Juni, kurz vor halb 12 - Johanna Keller und ich warten auf die Teilnehmer unserer Arbeitsgruppe „Dialogische Kultur. Ein Weg in die soziale Zukunft“. Wer wird kommen? Bei einem Angebot von über 50 verschiedenen Arbeitsgruppen auf dem Kongress „Soziale Zukunft“ wird jeder einen Grund haben, warum er sich gerade für unsere Arbeitsgruppe entschieden hat. Doch welcher ist das? Welche Fragen bringen sie mit? Wie gut kennen sie die Dialogische Kultur bereits? Das sind Momente, in denen die Seminarleiterinnen wohl ebenso stark in erwartungsvoller Spannung leben wie die Teilnehmenden, die jetzt nach und nach den Raum betreten. Eine angenehme Gruppengröße hat sich ergeben, die genügend thematische Vielfalt einerseits, aber auch Überschaubarkeit für das Gespräch andererseits ermöglicht. Nicht immer ist die Gelegenheit so günstig, in der Vorstellungsrunde viel über die Teilnehmer zu erfahren. Ihre Lebenssituation und Lebensalter (zwischen 20 und Ende 60) wie auch ihre Vorkenntnisse über die Dialogische Kultur sind bunt gemischt, doch ihre Fragen scheinen sich mehr oder weniger deutlich in der Suche nach einer sinnvollen, produktiven Zusammenarbeit zu treffen: Welche Fähigkeiten brauchen wir, um ein Unternehmen weiterzuentwickeln? Wie kann es zu einer wirklichen Ich-Begegnung kommen? Wie können Konflikte vermieden oder neue Wege aus einem schon entstandenen Konflikt gefunden werden? Wie gelingt es, aus der hierarchischen Führung tatsächlich herauszukommen? Eine Teilnehmerin bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen mehr Empfänglichkeit“. Sie hat sich schon mit Karl-Martin Dietz Buch „Produktivität und Empfänglichkeit. Das unbeachtete Arbeitsprinzip des Geisteslebens“ auseinandergesetzt. In der gegenwärtigen Kultur seien wir in der Produktivität besser geübt als in der Empfänglichkeit, für eine gute Zusammenarbeit müsse vor allem Letztere verstärkt werden, meint sie.
Diese Fragen schwingen bei unseren weiteren Darstellungen und Gesprächen mit, neue tauchen auf. Wir steigen genauer in den Prozess der Individuellen Begegnung ein und setzen uns zunächst damit auseinander, was ein wirkliches Interesse am anderen Menschen ausmacht. Bei einer weiteren Dimension der Individuellen Begegnung, dem Verstehen-Wollen, taucht eine kritische Frage auf: Aber liegt hier auch eine Gefahr? Kann das Verstehen-Wollen die unbefangene Begegnung gerade verstellen? Ja, wenn ich „Verstehen“ mit „Einordnen in mein System“ verwechsle. Ebenso, wenn ich vorschnell meine, den Anderen zu verstehen, ohne überhaupt genügend wahrgenommen zu haben. Verstehen-Wollen bedeutet, den Anderen aus seinen eigenen Grundlagen heraus zu verstehen, nicht aus meinen. Das setzt aber voraus, dass sich der Andere genügend öffnet. Wie kann ich dazu beitragen, dass er dies tut?
Schließlich beschäftigt uns der Unterschied zwischen „eigenwillig“ und „eigenständig im Sinne des Ganzen“. Die Teilnehmer bringen ein, dass fast jeder in einem Arbeitszusammenhang meine, dass er mit seinem Handeln das Ganze im Blick habe, also nicht eigenwillig agiere. Dennoch zeige die Praxis vielfach, dass das Handeln der verschiedenen Akteure im vermeintlichen Blick auf das Ganze nicht zusammengehe. Wie können solche Widersprüche überwunden werden? In dreimal 75 Minuten können solche umfassenden Fragen natürlich nur angerissen und nicht eingehender behandelt werden. Viel gewonnen ist aber, wenn durch die Beschäftigung mit den verschiedenen Prozessen der Dialogischen Kultur in ihren unterschiedlichen Dimensionen bemerkbar wird, wie sich jeweils andere neue Facetten des „Ganzen“ auftun, die nach und nach berücksichtigt werden können und das Ganze ständig erweitern.