
... Rudy Vandercruysse (von Paula Kühne)
Paula Kühne: Herr Vandercruysse, als Referent des zweiten Studientags werden Sie das Thema Selbstführung anhand des Werks des österreichischen Neurologen, Psychiaters und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl (1905-1997) beleuchten. Was macht die von Ihnen zitierte „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“, die Frankl begründete, so besonders? Was hebt sie ab von anderen psychologischen Schulen des frühen 20. Jahrhunderts?
Rudy Vandercruysse: Mit den ersten beiden „Wiener Schulen“ sind die Theorie und Praxis der Psychotherapie nach Freud und Adler gemeint: vereinfacht gesagt, stand für Freud der Lusttrieb, für Adler der Machttrieb im Zentrum der menschlichen Entwicklung. Der Mensch wurde also triebbestimmt gedacht: als unfreies Psychophysikum. Zudem war die Sicht Freuds und Adlers sehr stark von ihren neurotischen Patienten geprägt. Daraus resultierte eine reduktionistische Sicht auf den Menschen, in der er als psychologistisch, deterministisch und pathologistisch betrachtet wird und somit nicht alle seine Schichten berücksichtigt werden. Frankl dagegen betont die spezifisch menschliche Dimension: das, was den Menschen erst zum (gesunden) Menschen macht. Er stellt den „Willen zum Sinn“ ins Zentrum, der das selbstbezogene Seelisch-Leibliche „transzendiert“ und sich auf Werte in der Welt bezieht. Damit geht die Fähigkeit der Selbstdistanzierung einher: „Ich muss mir nicht alles gefallen lassen, auch von mir selber nicht.“ Die „Trotzmacht des Geistes“ kann sich dem eigenen Psychophysikum gegenüberstellen. Dann entscheidet der Mensch, wie und was er werden will. Und zu dem, was er nicht ändern kann, hat er immer noch die Möglichkeit, sich so oder so zu stellen. Wir entscheiden immer, auch wenn wir einer Entscheidung anscheinend ausweichen und uns als Opfer unserer Triebe oder unserer sozialen Verhältnisse verhalten.
PK: Sie betonen in Ihrer Ankündigung das Verdienst Viktor Frankls, den Logos-Begriff für die Lebenspraxis fruchtbar gemacht zu haben. Die sogenannte Logotherapie, die daraus hervorging, wird heute vielfach nicht nur in der Therapie, sondern auch in der Beratung angewendet. Welches Potenzial sehen Sie in diesem Ansatz im Hinblick auf das Thema Selbstführung? Wie ergänzen sich Selbstführung in der Dialogischen Kultur und die Logotherapie?
RV: Mit „Logos“ meint Frankl eben „Sinn“. Die Frage nach dem Sinn ist noch lange nicht pathologisch, im Gegenteil: sie zeichnet, wie gesagt, den Menschen aus. Und es ist der individuelle Mensch, der über ein „Sinn-Organ“ verfügt, das ihm ermöglicht, situativ zu verwirklichen, was er als sinnvoll erkennt. Darum hat sein Ansatz für jede Lebenspraxis ein entscheidendes Potenzial, auch für die Unternehmensberatung und für Führungsfragen zum Beispiel. Mit der Dialogischen Kultur scheint er mir das Primat der individuell-situativen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung gemeinsam zu haben. Diese bilden das Kernstück der Selbstführung, ohne die eine synergische Zusammenarbeit undenkbar ist. Jeder Betroffene muss für sich die Frage nach dem Sinn seines Tuns, auch eines gemeinsamen Tuns, ausreichend „sehen“ können, wenn er als Mensch voll beteiligt sein soll. Alles andere zieht den Menschen und die Gemeinschaft ins Sub-, ja Inhumane hinab.
PK: Sie wollen beim Studientag Aspekte der Selbstführung zu einem „übenden Erleben“ bringen. Können Sie uns kurz beschreiben, was Sie damit meinen? Warum ist das in Ihren Augen wichtig?
RV: „Üben“ im eigentlichen Sinne kann man nicht an einem Vormittag. Aber ich möchte die Teilnehmer an einigen Punkten dazu einladen, sich einzeln oder vielleicht auch kurz in kleinen Gruppen einige Fragen zu stellen, auch sich einigenFragen zu stellen, damit wir nicht nur unbeteiligt über diese Sachen reden. Sie haben einen existenziellen Charakter und es wäre nicht ganz ernsthaft, sie anders zu behandeln. Natürlich beinhaltet das zugleich, dass jeder selbst entscheidet, worauf er sich einlässt und wie weit er dabei geht. Und was er davon „preisgibt“. Angst muss keiner haben. Wenn möglich sollte eine Ahnung davon entstehen, wie man üben kann, wenn man will. Selbstführung heißt Selbstbefähigung. Die erfordert nun mal Übung.