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Blog Cover Selbstführung. Denken. Wirklichkeit
Selbstführung. Denken. Wirklichkeit? | Das soziale Geheimnis der Sprache. Dialogphilosophie bei Eugen Rosenstock-Huessy

... Thomas Kracht und Helmut Dietz

 

Paula Kühne: Herr Kracht, Ihr Beitrag beim kommenden Studientag steht unter dem Titel "Selbstführung. Denken. Wirklichkeit?" Was dürfen die Teilnehmer des Studientags erwarten?

Thomas Kracht: Wie gehen wir mit der Frage nach "Selbstführung" um? - Wenn ich mich damit auseinandersetze, muss ich mir selbst  sagen: Nicht rechtfertigen will ich meinen Willen zur Selbstführung, wohl aber zu ergründen suchen. Wie ist das möglich und was ergibt sich daraus? - Zu diesem Thema möchte ich am Studientag  sprechen und Gespräche anregen.

PK: Helmut Dietz, Sie werden in Ihrem Beitrag über Rosenstocks Umgang mit der Sprache sprechen. Was zeichnet diesen genau aus?

Helmut Dietz: Denken wir an Sprachphilosophie, meinen wir meist Argumentationsanalyse. Nun ist die Logik aber nur eine Seite der Sprache. Das andere genuine Element der Sprache ist ihre Grammatik. Denn alles was gesprochen wird, folgt einer Logik. Und alles was logisch ist, hat eine Grammatik. Und umgekehrt. Bereits 1916 widmete sich Eugen Rosenstock-Huessy in einem Brief an Franz Rosenzweig der Frage nach der Bedeutung der Grammatik und bemerkte, dass sie die Qualität unserer Beziehungen ausdrückt, Beziehung zu uns selbst, zu Anderen und auch zu Anderem. Franz Rosenzweig weist ausdrücklich darauf hin, dass ihm diese Rosenstock'schen Überlegungen bei der Abfassung seines Buches Stern der Erlösung von 1921 vorlagen. Darin verwendet und erweitert er diese grammatischen Feststellungen in eine ontologische Richtung. Eugen Rosenstock-Huessy, der später dann auch explizit dialogphilosophisch unterwegs ist, kann durch seine Sprachphilosophie also ganz konkret als ein Initiator der Dialogphilosophie angesehen werden.

PK: Ihr Beitrag zum Studientag steht unter dem Titel "Das soziale Geheimnis der Sprache". Welches Potenzial hält das Verständnis dieses dialogphilosophischen Ansatzes für das Soziale, also das Zusammenleben oder Zusammenarbeiten von Menschen, bereit?

HD: Rosenstock-Huessys Hauptwerk ist sein dreibändiges Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nachgoethische Soziologie. In diesem Monumentalwerk, das 1956/58 erstmals erschien, greift er die durch ihn bereits beeinflusste Dialogphilosophie insbesondere Rosenzweigs und Bubers, aber auch Ebners, noch einmal auf. Bereits Rosenzweig  dringt in seinem auf Ontologie zielenden Ansatz zur Zeitlichkeit des Seins vor, insbesondere indem er die Modi des Verbs herausstellt. Ferdinand Ebner nähert sich in seinem Buch Das Wort und die geistigen Realitäten, das 1921 parallel zu Rosenstocks Stern, aber völlig unabhängig von diesem erschien, grammatisch der Frage nach der Qualität der Ich-Du-Beziehung, vor allem, indem er die Fälle berücksichtigt. Buber, der wohl einzige wirklich berühmte unter den Dialogphilosophen, führt beide Ansätze insbesondere in Ich und Du von 1923 in pädagogischer Absicht zusammen.
Rosenstock gelingt es nun in seiner Soziologie, die Zeitlichkeit des Seins selbst zu thematisieren und er geht hierbei weit über Rosenzweig hinaus. Widmet sich Rosenzweig der Frage, wie Umgang im Sein möglich ist, ohne dass wir es je begrifflich umfassend verstehen können, stellt Rosenstock fest, dass es vor allem die Dimension der Zeitlichkeit selbst ist, die wir vom Sein mitbekommen. Nichtsdestotrotz sind wir aber niemals in der Lage, die Zeit begrifflich umfassend zu verstehen. Sein und Zeit selbst bleiben also geheimnisvoll, aber in seiner Zeitlichkeit teilt sich das Sein uns mit. Wollen wir "das" Sein oder "die" Zeit begreifen, wollen wir sie eigentlich unter Kontrolle bringen.

Verkürzt gesagt stehen wir also vor folgendem Problem: Bilden wir uns einen Begriff von dem „Sein“, wissen wir eigentlich nichts über das Sein, sondern entwickeln bloß einen „Ismus“. Machen wir uns einen Begriff von der „Zeit“, wissen wir nichts von der Zeit, sondern schaffen uns nur einen Kalender. Treten uns Ismus und Kalender zusammen, leben wir im Binnenraum einer „Weltanschauung“. Es wird uns also um die Frage nach einer möglichen Orientierung jenseits von Weltanschauungen gehen und hierbei spielt die Grammatik eine entscheidende Rolle.