
Wenn ein Wort wie Pflegeroboter fällt oder es um smarte Kühlschränke geht, die selbstständig Lebensmittel für ihre Besitzer nachbestellen, schütteln wir amüsiert die Köpfe – lustig, dieses Digitalgedöns, aber wer braucht sowas denn ernsthaft?
Und doch: an sehr vieles von dem, was der digitale Wandel gebracht hat, haben wir uns bereits gewöhnt. Ans Erreichbarsein zum Beispiel. Und dass im Gegenzug immer jemand ansprechbar ist – wenn kein Mensch, dann eine digitale Assistentin: Cortana, Alexa oder Siri hören sich zu jeder Tages- und Nachtzeit an, was wir zu sagen haben, und tun, was wir ihnen auftragen – die Katze füttern, Mutti anrufen, Pizza mit extraviel Käse bestellen. Sie tun es ohne lang nachzubohren und ohne uns zu widersprechen. Vor allem aber sagt keine: „Jetzt lass mich doch endlich mal in Ruhe mit deinem Mist!“.
„Und wenn Roboter einfach mehr Geduld haben, zuzuhören?“ wirft eine Teilnehmerin des Studientags, der am 21.10.2017 am Friedrich von Hardenberg Institut in Heidelberg stattfindet, provokativ in die Runde. – Knapp 25 Menschen unterschiedlichen Alters treffen sich hier, um sich gemeinsam mit der Referentin Angelika Sandtmann einen Aspekt der Dialogischen Kultur genauer anzuschauen: die Selbstführung.
Auf den ersten Blick scheinen die gewählten Unterthemen „Selbstführung im Zeitalter der Digitalisierung“ und „Inklusion als Herausforderung an die Selbstführung“ nicht zwingend aufeinander hinzuführen, bemerkt Angelika Sandtmann gleich zu Beginn des Tages. Beides präge aber heute unser Leben „mit gegensätzlichen Tendenzen“ – während sich der Mensch im Zeitalter der Digitalisierung selbst abzuschaffen drohe, könne er in der „Inklusion“ wieder neu oder überhaupt erst zum Menschen werden.
Selbstführung im Zeitalter der Digitalisierung
Dass das Zuhören eines Roboters dem Zuhören eines Menschen nicht gleichkommen kann, darin ist sich jeder im Raum sicher. Interessant findet Angelika Sandtmann jedoch, dass – wenn ich teilweise nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob ich einen Roboter oder einen Menschen mit Leib und Seele am Telefon habe – das auch viel über die Qualität der Kommunikation zwischen uns Menschen aussagt: Floskeln und Smalltalk kann die Maschine nämlich mindestens genauso gut.
Abgrenzen können wir Menschen uns von der „künstlichen Intelligenz“ auf andere Art – und dass wir es tun, wird umso wichtiger, je mehr wir im Alltag dazu neigen, das Diktat der digitalen Logik nicht zu hinterfragen, sondern hinzunehmen. Welche kognitiven Fähigkeiten sind es nun aber genau, die den Menschen vom Roboter unterscheiden? Den Teilnehmern des Studientags fällt einiges ein: Im Gegensatz zur Maschine besitzt der Mensch eine Urteilsfähigkeit, die er umso schärfer nutzen muss, je mehr „Inhalte“ täglich auf ihn niederprasseln. Statt nur entgegenzunehmen, was durch Datenauswertung für ihn generiert wird, ist er noch immer im Stande, seine Denkprozesse selbst zu entwickeln, auch mal Pause zu machen und Zusammenhänge aus der Distanz zu betrachten. Der Mensch kann vergessen und sich selektiv erinnern, er kann differenzieren, gestalten und nach Sinn suchen. Die Voraussetzung dafür, dass wir all diese Fähigkeiten anwenden können, ist ein selbstgeführtes Leben. Ein Teilnehmer ergänzt: Ein Leben, in dem ich mein Selbst so bilde und weiterentwickle, dass es frei ist, dem eigenen Ich und anderen Menschen offen zu begegnen.
Dass Begegnungen zwischen uns Menschen per se eben nicht offen, sondern oft genug einseitig sind – dass es uns manchmal viel mehr ums Müll abladen als um ein echtes Interesse am Anderen geht –, diese Beobachtung haben doch die Meisten schon an sich selbst gemacht. Was auch immer es ist, was uns daran hindert, unbefangen und ohne eigennützige Hintergedanken aufeinander zuzugehen – es schränkt uns ein und es behindert uns im Umgang miteinander. Jeden von uns.
„Ich bin einer von achtzig Millionen behinderten Deutschen. Mir sieht man es nur gleich an“, sagte der mit einer Contergan-Schädigung geborene Sänger Thomas Quasthoff einmal. – Wir sind im Nachmittagsthema des Studientags angekommen.
Inklusion als Herausforderung an die Selbstführung
„Die Vertragsstaaten verpflichten sich, sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderung zu fördern“, heißt es in Artikel 8 (1c) der UN-Behindertenrechtskonvention, die am 3. Mai 2008 in Kraft getreten ist. Zweifellos: sie ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Nur die sofortigen, wirksamen und geeigneten Maßnahmen, die hat noch keiner vorbeigebracht aus New York. Lehrerinnen und Lehrer, die nun mit Inklusionsklassen arbeiten sollen, trifft das Gesetz größtenteils unvorbereitet, manche sind überfordert, viele sind ratlos. Auch Arbeitgeber melden sich zu Wort: „Wir würden ja gerne, aber wie soll es gehen?“
Ob die Studientagteilnehmer nun beruflich mit dem Thema „Inklusion“ zu tun haben oder ihm „lediglich“ im Alltag begegnen – viele wissen aus eigener Erfahrung: Es kann viel schiefgehen dabei, in guter Absicht den Alltag der Menschen von der Unterteilung zwischen „mit“ und „ohne“ zu befreien. So kann es zum Beispiel passieren, berichtet eine Teilnehmerin, dass Menschen mit Behinderung als „pädagogische Objekte“ missbraucht werden. Ein ständiges Sichtbarmachen des Anders-Seins führe zu Unsicherheit und Überforderung. Ein geschützter Raum (wie beispielsweise eine Camphill-Gemeinschaft) habe dagegen den Vorteil, dass ein Mensch seine Autonomie leben könne, ohne dauernd derjenige zu sein, der etwas nicht so gut kann wie der Rest. Aber: Beispiele, in denen ein Kind mit irgendeiner Art von Einschränkung in einer Schulklasse mit vielen anderen sitzt, die zumindest erstmal keine sichtbare Behinderung haben, und das sehr gut funktioniert, die gibt es eben auch. Dass es funktioniert, liegt dann oft daran, dass sich die Kinder und Jugendlichen ernst und unerschrocken begegnen, während sich die Erwachsenen noch den Schädel zermartern, wie jetzt hier genau inkludiert werden müsste.
In der konkreten Begegnung zwischen Menschen, die über ihre Gattungsgrenzen hinaus denken können, scheint der Schlüssel für ein gelingendes Miteinander zu liegen. Aber das Hinweggehen über Kategorien fällt uns umso schwerer, je stärker sich Zuschreibungen heute von außen an uns festsaugen: Wir sind Vereinsmitglieder, Mitarbeiter, Konsumenten, User, Autisten, Vegetarier.
Auch müsste der soziale Raum ganz neu gestaltet werden, damit es zu konkreten Begegnungen kommen kann. Was bedingt diesen Raum, wie könnte er aussehen? Die Gestaltungsfrage ist längst nicht mehr Sache einer Bildungselite. Jeder hat Möglichkeiten, die angeblichen „Gegebenheiten“ zu verändern – und bei sich selbst anzufangen. Kann es mir gelingen, auf die Besonderheiten der Behinderung eines (jeden) Menschen aufmerksam einzugehen, darüber hinaus aber auch den Menschen als Menschen unabhängig davon zu betrachten? Wie müssten wir unsere Gesellschaft verändern, damit in ihr Begegnung nicht vermieden, sondern herausgefordert wird – gerade in einer Zeit, in der wir uns angewöhnt haben, viele Minuten am Tag auf Displays zu starren?
Nicht alle Fragen werden maschinell analysiert, um mit höchster Datengeschwindigkeit beantwortet zu werden. Manchmal lohnt es sich, sie nach intensiver Auseinandersetzung liegen zu lassen und nach einer Weile wieder neu anzupacken, um dann vielleicht Antworten – oder ganz neue Fragen – zu finden. Das ist das gute Gefühl, mit dem dieser Studientag im Hardenberg Institut zu Ende geht.