
Karl-Martin Dietz im Gespräch mit Angelika Sandtmann
Angelika Sandtmann | Du hast einmal an einer anderen Stelle gesagt: „Auf das Individuelle zu setzen, gelingt leichter, wenn man in einer Gemeinschaft ist, in der sich bereits ein gewisses Maß an Dialogischer Kultur herausgebildet hat“. Welche Rolle spielt also Gemeinschaft, wenn es darum geht Eigenständigkeit zu fördern oder zu erschweren?
Karl-Martin Dietz | Der Einzelne benötigt erst einmal die Fähigkeit, eigenständig zu handeln. Das ist nicht so leicht, denn das ist man nicht gewöhnt. Aber eine handelnde Gemeinschaft müsste verstehen, dass es auf die Eigenständigkeit der Einzelnen ankommt, mit allem, was dazu gehört. Es gehört zum Beispiel dazu, Fragen zu stellen. Und wenn einer dann nachfragt, dann ist das eine Sachfrage, die ganz normal ist. Genauso normal wie die Frage: Hat jemand meine Brille gesehen? Es geht bei einer solchen Frage nicht um ein „Hinterfragen“, einen Affront oder ein In-Zweifel-Ziehen. In einer Gemeinschaft, die das nicht berücksichtigt, ist eigenständiges Handeln schwierig. Und das wird mir auch immer wieder aus der Praxis berichtet. Da meint jemand: „Ich kann doch meinen Chef nicht dauernd fragen, warum ich das jetzt so machen soll und nicht so. Der steigt mir doch aufs Dach!“ Ja, denn der meint, er sei angegriffen worden! Ich habe auch schon mal einen entrüsteten Chef sagen hören: „Ich kann mich doch nicht für alles rechtfertigen!“. Aber darum geht es ja nicht! Es geht nicht um Rechtfertigung, sondern darum, einsichtig zu machen, das Bewusstsein zu weiten, nach Ursachen hin zu vertiefen. Wenn das gelingt, geht vieles von alleine. Und das ist letztlich der Sinn einer Dialogisch eingestellten Gemeinschaft. Sie kann natürlich auch an dem Punkt ansetzen, wo man sich zunächst einmal bewusst und klar macht, was zum Dialogischen überhaupt dazu gehört: 1., 2., 3. ... usw. Und wenn es dann Gewohnheit geworden ist, wenn es „Kultur“ ist, dann wird man sich selbstverständlicher und leichter darin bewegen und seine Vorzüge erkennen, z. B. im Hinblick auf die Innovationsfreude oder Eigenständigkeit, auf den eigenständigen Blick des Einzelnen.
AS | Sich angegriffen fühlen, sich rechtfertigen müssen …, das sind schon sehr negativ besetzte Gemütszustände. Misstraut man sich also eher als dass man sich vertraut? Wie geht man in einer Dialogischen Kultur damit um?
KMD | Ich kenne keine empirische Untersuchung darüber. Aber nach all dem, was einem im Leben so begegnet, neigt man wohl eher dazu, dem Anderen zu misstrauen, wenn man ihn nicht kennt. Lernt man ihn aber kennen als jemanden, der auf einen zugeht, der mit einem gemeinsam etwas bewirken will, dann gibt es keinen Grund für Misstrauen, auch wenn da mal etwas Schräges herauskommt. Das kann immer passieren, wir produzieren alle mal einen Patzer. Wenn wir aber schon ein bisschen geübt sind in der Kultur des gegenseitigen Vertrauens, ist selbst dann, wenn man von ganz unterschiedlichen Seiten her kommt, so ein anfängliches Misstrauen wie weggeblasen.
AS | Aber zunächst ist es da?
KMD: Ja, zunächst ist es da. Man sieht das z. B. wenn man in einen Laden kommt und etwas Unübliches haben möchte. Da kommt es darauf an, wie ich den Verkäufer anspreche und natürlich auch, wie ansprechbar er ist. Man befindet sich sofort in einem Bewegungsfeld, das man nicht vorprogrammieren kann. Ich kann ein ehrliches Gesicht aufsetzen – vielleicht habe ich ja auch gar kein anderes! – dann wird er in der Regel ernsthaft auf mein Anliegen eingehen. Aber ich muss gewahr sein, dass einer misstrauisch ist, weil er nicht versteht, auch manchmal sprachlich nicht versteht, was auf ihn zukommt. Das gibt es auch.
AS | Nun ist das Provozierende einer Dialogischen Kultur anscheinend, dass sie in einer Gemeinschaft ganz entschieden auf das Individuelle baut, es verstärkt, anstatt es zurückzufahren. Meist wird ja gefordert, dass man sich als Einzelner in einer Gemeinschaft zurücknimmt, wenn es sozialverträglich zugehen soll. Liegen hier unterschiedliche Begriffe des Individuellen vor?
KMD: Da muss man wirklich unterscheiden zwischen „persönlich“ und „individuell“. „Persönlich“ bezieht sich auf meine Persönlichkeitsmerkmale, meine Eigenschaften. Mich als Person kann man beleidigen, aber mich als Individuum kann man nicht beleidigen.
AS | Wie komme ich von der „Person“ zum „Individuum“?
KMD: Das kann ich mir vornehmen. Wir nennen es Individuelle Begegnung. Wir lassen uns mit voller Absicht, ganz entschieden und bewusst auf einen anderen Menschen ein, ob wir ihn mögen oder nicht. Diese Art des Interesses am anderen Menschen darf nicht sympathiegeleitet sein, sonst ist es kein Interesse. Ich muss es beschließen, ich muss es aktiv tun, und das ist unter Umständen ziemlich hart. Wenn ich es aber tue, lasse ich meine „Persönlichkeits-befindlichkeiten“ außer Acht und interessiere mich für den Anderen. Zum Beispiel für das, was er denkt. Dann sagt er irgendetwas Merkwürdiges, was ich ganz blöd finde. Jetzt stehe ich vor der Wahl: entweder ich sage mir „Oh Gott, das hab ich früher auch gedacht, ich meine es jetzt aber so“, dann diskutieren wir. Oder ich bleibe im Begegnungsmodus und frage mich, wie er denn darauf kommt und was dahinter stehen könnte. Es muss meine ehrliche Frage sein, mich wirklich interessieren, wie er auf so eine Seltsamkeit kommt. Da habe ich auch interessante Erfahrungen gemacht, zum Beispiel mit jemandem, der ungefähr das Gegenteil von dem vertreten hat, was ich vertreten würde. Nachdem ich mich einmal auf seine Beweggründe und auf das, was hinter seinen Aussagen stand, eingelassen hatte, stießen wir auf ein gemeinsames „Warum“! Auch wenn ich nachher immer noch anders handeln würde als er: Es hat sich für mich ein Stück Horizont, ein Stück geistiger Horizont eröffnet und ich habe zumindest sehen können, wie man anders und trotzdem sinnvoll denken kann. Ich kann sein Anliegen gut verstehen!
AS | Wie kommt man nun zu einem gemeinsamen Handeln, wenn man trotz einer Einsicht anders handeln würde als der Andere?
KMD | Ja, in vielen Fällen muss man gemeinsam handeln, das ist in der Tat eine Herausforderung. Was ist üblich? Einer sagt, wie es gehen soll. Da ist alles noch ganz einfach. Dann wird es eben so gemacht. Leider ist dieses hierarchische Prinzip ein bisschen in Misskredit geraten, auch weil oben nicht immer der Schlaueste sitzt. Es gibt im Wirtschaftsleben zahlreiche Fälle, wo dieser Umstand riesige Unternehmen zu Fall gebracht hat. Was gibt es noch? Beispielsweise das Prinzip der Mehrheitsabstimmung. Wieviele sind dafür, wieviele dagegen? In Fällen, wo es wirklich um etwas geht, wo es um Leistung geht, um Erfolg, um Neues, scheint mir das ein eher fragwürdiges Verfahren, denn dass die Meisten auch immer die Schlauesten sind, darf man wohl bezweifeln.
Was kann aber an die Stelle treten? Ein neues Prinzip der Entscheidungsfindung! Dialogisch gesprochen das, was wir den „Entschlussprozess“ nennen. Ich kann ihn hier nicht ausführlich beschreiben, ohne den Rahmen zu sprengen, aber man sollte wissen, dass alle anderen Dialogischen Prozesse in ihn mit einfließen. Jedenfalls wird deutlich, dass einer allein oder eine kleine Gruppe die Entscheidung treffen muss. Es gibt sogenannte „Träger des Entschlusses“.
AS | Wie unterscheidet sich deren Handeln von einem hierarchischen?
KMD | Im Dialogischen kommt es auf zwei Dinge an, die sich der „Entscheider“ bewusst machen sollte: „Es kommt mir drauf an, dass das, was ich entscheide, auf fruchtbaren Boden fällt“ und: „Ich möchte eine gute Entscheidung haben und diese könnte Gesichtspunkte enthalten, die mir alleine gar nicht einfallen“. Natürlich gehört da noch mehr dazu, aber eine entscheidende Sache kann man hier schon sehen: Der „Entscheider“ wird vor einer Entscheidung alle Gesichtspunkte sammeln, die es gibt, auch die, die ihm nicht liegen. Dabei wissen alle anderen - und das gehört zu einer solchen Entscheidungskultur dazu -, dass sie jetzt alles einbringen können, denn der Entscheidungsträger ist bereit sich auch von etwas überzeugen zu lassen, was ihm bisher fremd war. Dieses Nichtbeharren auf der eigenen mitgebrachten Position ist im Dialogischen Zusammenhang nicht ungewöhnlich. Die vor einem Entschluss notwendige Beratung ist im Dialogischen Sinne dann zu Ende, wenn ein komplettes Handlungsmodell da ist.
AS | Seit fast 20 Jahren wird hier am Institut an der Entwicklung und Weiterentwicklung des Dialogischen gearbeitet. Was waren einschneidende Erlebnisse bezüglich des oben angedeuteten Handelns? Gibt es dort einschneidende Erlebnisse, von denen Du berichten kannst?
Ja, da könnte ich Manches berichten. In einem recht kleinen Kreis habe ich mal einen Vorschlag reingebracht, etwas so und so und so zu machen. Dann wurde darüber beraten und die Anderen wollten alle was anderes. Ich sagte mir dann „bleibste mal hartnäckig“ und habe immer noch für meinen Vorschlag argumentiert. Am Ende haben sie dann gesagt „also gut, der will das so, dann machen wir es so“. Dann hab ich gesagt „nein Freunde, mein Vorschlag war so weit tragend und so anspruchsvoll, dass er nur gelingt, wenn er von allen, die ihn dann mittragen müssen, wirklich mitgetragen wird. Ich bedanke mich, aber das ist keine Grundlage für einen Entschluss.“ Und dann hab ich selbst dafür gesorgt, dass sozusagen der zweitbeste Entschluss, der aber von den Anderen mitgetragen werden konnte, genommen wird. Dieser Gesichtspunkt muss auch bedacht werden. Wir können einen hervorragenden, sachlich hervorragenden Beschluss fassen, und niemand trägt ihn mit, auch Alltag in vielen Unternehmen. Die Geschäftsführung beschließt und fast niemand führt es aus. Im Dialogischen unterscheiden wir dann grundsätzlich noch unterschiedliche Arten von Entschlüssen, aber das wäre ein Thema für sich.