
Es gab schon 2016 einen Studientag zu Sokrates:. Warum jetzt noch einen weiteren?
Die Studientage waren damals eingerichtet worden, um unser ganzes Projekt „Dialog“/„Dialogische Kultur“ mit Interessierten zu thematisieren. Der erste Tag dieser ersten Reihe war auch schon einmal dem Sokrates gewidmet, der schließlich den „Dialog“ im eigentlichen Sinne erfunden hat.
Worin unterscheiden sich denn die Gesichtspunkte des kommenden Sokrates-Tages von dem vergangenen?
Beide Seiten der Sache – meine Studien zum historischen Sokrates einerseits und die Entwicklung der „Dialogischen Kultur“ andererseits – haben in der Zwischenzeit unabhängig voneinander Fortschritte gemacht. Und dabei zeigte sich, dass beide Arten von Fortschritten sich aufeinander zubewegen.
Sokrates ist seit zweieinhalbtausend Jahren als Philosoph berühmt, aber es gibt von ihm keine Lehre. War er nicht der Gründer der Ethik im Abendland?
Ja, aber einer Ethik ohne Normen.
Was heißt dann „Ethik“? Was war denn dann sein Anliegen?
Dieser Frage gehe ich in meinem neuen Buch nach. Statt einen Beruf auszuüben, ging er den ganzen Tag in der Stadt Athen herum und verwickelte seine Mitmenschen in Gespräche. Das war damals für Männer mit einem gewissen Grundeinkommen aus ererbten Vermögen keine Seltenheit. Oder auch für solche, die einen gewissen Grad an Bedürfnislosigkeit erreicht hatten. Zu welcher von beiden Gruppen Sokrates gehörte, ist bis heute nicht klar.Er war beliebt als gebildeter Gesprächspartner, von dem man profitieren konnte. Aber er war auch gefürchtet als einer, der unversehens unangenehme Fragen stellte. So unangenehme, dass er damit seinen Mitmenschen lästig fiel und sie ihn schließlich unter Vorwänden anklagen und in einem der neuen Volksgerichte mit 500 demokratisch ernannten Richtern aburteilten und töten ließen. Was sein „Vergehen“ war, legt er in seiner Verteidigungsrede selbst dar: dass er seine Mitbürger mit einer gewissen Penetranz aufforderte, sich „um die Seele zu sorgen“. Dazu aber fühlte er sich geradezu verpflichtet nach einem Orakelspruch in Delphi, der ihn als weisesten aller Menschen hinstellte. Da habe er doch nachprüfen müssen, was der Gott mit diesem Spruch meint. Denn er selbst sei felsenfest davon überzeugt ,,dass er nicht weiß“. Und so habe er einen nach dem anderen derjenigen Mitbürger einer „Prüfung“ unterzogen, die selbst behaupteten, irgendetwas Bedeutendes zu wissen. Und das waren schließlich fast alle.
Was Sokrates mit „Wissen“ eigentlich meint, war ebenso herauszuarbeiten wie die noch schwierigere Frage, warum es in all den von Sokrates geführten Gesprächen nie zu formulierbaren Erkenntnissen kommt. Worauf wollte er denn hinaus, wenn er auf genaue Gedankenführung bestand? Liegt im Denken für ihn vielleicht noch eine andere Qualität als die, Kenntnisse zu erwerben und zu sichern? – Auch dieser Frage gehe ich im Buch nach.
Welchen Ansatz, welche Perspektive auf Sokrates wird der Studientag haben?
Der Studientag wird sich selbstverständlich auf die Ergebnisse meines Buches stützen. Er steht aber in einem anderen Diskurs-Zusammenhang: wie eine „Dialogische Kultur“ auszusehen hat und was sie leisten kann. Dialogische Kultur geht ja von heutigen Fragestellungen aus, die für die Zukunft von Bedeutung sind. Sie baut in verschiedenster Beziehung auf der Gesinnung und dem Grundanliegen des Sokrates auf. Das geht so weit, dass eine gegenwärtige Hauptströmung des geistigen Lebens auf Gedankengänge zurückgeführt werden kann, die zur Zeit des Sokrates bei seinen Gegenspielern, den Sophisten, zum ersten Mal gedacht wurden. Wer heute einfach in umfassendem Sinne von „Wahrheit“ oder von „der Wirklichkeit“ spricht, setzt sich dem Verdacht aus, von vorgestern zu sein. So selbstverständlich ist es inzwischen geworden davon auszugehen, dass es eine unabhängig vom Menschen existierende Wirklichkeit nicht gibt oder, falls es sie es doch geben sollte, sie den Menschen prinzipiell nicht zugänglich ist. Sokrates ist der erste, der mit einer solchen Ansicht vonseiten der Sophisten konfrontiert wurde. Er hat alles darangesetzt, sie infrage zu stellen. Was damals als vielleicht attraktives Gedankenspiel galt, ist heute zu einer Art Selbstverständlichkeit geworden. Wer jedoch diese These, dass es in Wahrheit gar keine Wirklichkeit gibt, für sich akzeptiert, ändert nicht nur sein Verhältnis zur „Welt“ grundlegend und folgenreich, sondern auch das Verständnis seiner selbst. – Es lohnt sich, einer solchen Ansicht auf den Grund zu gehen. Und das heißt auch: geistesgeschichtlich auf den Grund zu gehen. Hier trifft sich das Anliegen des Studientags mit dem des Buches.
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